Fachartikel
Apotheken Umschau
Apotheken Umschau
Auszeichnung
Die Fürst Donnersmarck-Stiftung hat 2009 der wissenschaftlichen Arbeit von Frau Prof. Dr. Susanne Trauzettel-Klosinski an der Uni-Augenklinik Tübingen den Forschungspreis für neurologische Rehabilitation verliehen.
Mit dieser wissenschaftlichen Untersuchung mit dem Thema "Nachklinische Rehabilitation von Menschen mit Hirnschädigungen" wurde eine Arbeit von hohem methodischen Niveau veröffentlicht, die von unmittelbarer praktischer Bedeutung für die Betroffenen ist.
(Quellehinweis: Artikel aus der Apotheken Umschau vom 01. Januar 2010)
Rehabilitation
Patienten mit einer neurologischen Sehstörung können lernen, ihre Defizite auszugleichen.
Ausgerechnet im Urlaub, auf Kuba, erlitt Leonel Swift einen Schlaganfall. Es schien noch einmal gut gegangen zu sein: Lähmungen oder ein Sprachverlust traten nicht auf. Anfangs hatte er Sehstörungen bemerkt, doch auch die hatten sich schnell gebessert. Nach zehn Tagen Krankenhausaufenthalt in der Karibik konnte er zurück nach Deutschland fliegen. Dort stellte der gebürtige Brite und Wahl-Schwabe bald fest, dass doch nicht alles stimmte: Er fiel Treppen hinunter, rannte Leute um, erwiderte den Gruß von Bekannten nicht. Swift konnte zwar sehen, aber er sah nur die Hälfte.
„Etwa 30 Prozent aller Schlaganfall Patienten leiden an einer Einschränkung des Gesichtsfelds, einer Hemianopsie“, sagt Professorin Susanne Trauzettel Klosinski von der Universitäts-Augenklinik Tübingen. Das Leiden werde allerdings vernachlässigt, bemängelt sie. Der Grund: Die Ärzte konzentrieren sich bei ihren Patienten auf Bewusstseinsstörungen und motorische Ausfälle, von denen die Prognose des Schlaganfalls maßgeblich abhängt. „Dennoch ist die Hemianopsie keine Bagatelle“, betont Trauzettel-Klosinski. „Die Betroffenen sind dadurch schwer beeinträchtigt. “
Die Behinderung besteht darin, dass der Winkel des gesehenen Bilds verkleinert ist. Es fehlt also beispielsweise die linke Seite – alles, was links von der Nasenspitze liegt, bleibt unsichtbar. Nicht vergleichbar ist das Defizit mit einseitiger Blindheit, wie Trauzettel-Klosinski betont: „Patienten mit nur einem Auge sehen deutlich besser als solche mit einer Hemianopsie. “ Denn jedes Auge hat auch allein ein linkes und ein rechtes Gesichtsfeld.
Bei der Hemianopsie aber verschwinden bestimmte Bereiche des Panoramas vollständig. Ausmaß und Anordnung des Ausfalls hängen davon ab, wo im Kopf ein Problem vorliegt. Die von der Netzhaut des Auges kommenden Reize durchlaufen nämlich das gesamte Gehirn, bis sie an dessen hinterem Rand, in der Sehrinde, dem Bewusstsein sichtbar gemacht werden. Die „Bahnen“ von linkem und rechtem Auge kreuzen dabei ihre Wege und tauschen Nervenfasern aus, sodass das linke Gesichtsfeld in der rechten Gehirnhälfte gesehen wird und umgekehrt.
Bei Leonel Swift führte daher derInfarkt der rechten hinteren Gehirnhälfte zu einem nahezu vollständigen Verlust des linken Gesichtsfelds – mit dramatischen Folgen: Er brach sich die Rippen an übersehenen Parkuhren, trat beim Aussteigen aus dem Bus in einen – zum Glück leeren – Kinderwagen und Ähnliches mehr. Mehr als 30 Unfälle verursachte der heute 72-Jährige wegen seines Handicaps in den vergangenen zehn Jahren. Auf der Suche nach medizinischer Abhilfe erntete er allerdings Schulterzucken. „Da kann man nichts machen“, lautete bis vor Kurzem die Standardantwort der Ärzte. Mittlerweile gibt es aber Einrichtungen in Deutschland, die sich auf dieBehandlung der Hemianopsie spezialisiert haben und Erfolge vorweisen können. Leonel Swift hat davon profitiert.
„Mit dem sogenannten Sakkadentraining lässt sich die Raumorientierung von Patienten dauerhaft verbessern“, fasst Trauzettel-Klosinski die Ergebnisse ihrer Studie zusammen, an der Swift teilgenommen hat. In mehr Ecken leuchten Sakkaden sind schnelle Augenbewegungen, die der Mensch in der Regel unbewusst einsetzt, wenn er sich orientiert oder etwas sucht. Beim Training lernen die Sehbehinderten, mit schnellem Blick die Umgebung abzufahren und so ihren begrenzten Bildausschnitt auszugleichen. „Das Verfahren ist nicht neu. Wir haben aber gezeigt, dass es tatsächlich hilft, dass es den Alltag der Betroffenen erleichtert und ihre Lebensqualität erhöht“, berichtet die Untersuchungsleiterin. Swifts Blickwinkel ist so eng wie zuvor, doch er kann ihn besser nutzen.
Neben dieser Kompensation gibt es auch den Ansatz, den Gesichtsfelddefekt tatsächlich zu verkleinern, also geschädigte Nervenzellen zu reaktivieren. „Beim Sakkadentraining lernt man gewissermaßen, mit einem engen Lichtkegel in mehr Ecken zu leuchten. Wir versuchen, den Kegel wieder weiter zu machen“, beschreibt Professor Bernhard Sabel vom Universitätsklinikum Magdeburg die von ihm entwickelte visuelle Restitutionstherapie. Der Neuropsychologe geht davon aus, dass sich im Grenzbereich des Hirnschadens Nervenzellen befinden, die zwar angeschlagen, aber nicht zerstört sind und deshalb durch eine Stimula-tion wieder „sehend“ gemacht werden können. Bei der Therapie werden dem Kranken Lichtreize in diesem Sehbereich mit Restwahrnehmung angeboten. „Zwei Drittel der Patienten sprechen darauf an“, berichtet Sabel. Der Gesichtsfelddefekt könne so um gut 30 Prozent gemindert werden.
Doch die Methode ist umstritten. „Bei den hoch spezialisierten Zellen des visuellen Systems ist eine Erholung nicht zu erwarten“, sagt Susanne Trauzettel-Klosinski. „Was kaputt ist, bleibt kaputt. “ Sie hat in ihrer Studie eine ähnliche Flickerlicht-Stimulation überprüft und konnte keine heilsame Wirkung feststellen. Trauzettel-Klosinski glaubt, dass die Erfolge der Restitutionstherapie in Wirklichkeit ebenfalls auf eine Kompensation durch Sakkaden zurückzuführen seien: „Durch die Lichtreize beginnen die Patienten, mehr zur blinden Seite zu blicken. “ Bernhard Sabel hält das für ausgeschlossen: „Wir haben die Augenbewegungen gemessen und gezeigt, dass es nicht so ist. “
Spontane Besserung „Die visuelle Stimulation ist interessant, aber es gibt noch keinen hinreichenden Beweis für den prakti-schen Nutzen“, kommentiert Professor Wolfgang Heide, Chefarzt der Neurologischen Klinik am Allgemeinen Krankenhaus Celle, den fachlichen Streit. Die Wirksamkeit des Sakkadentrainings sei vergleichs-weise besser untersucht und belegt. Man solle möglichst früh mit dem Blicktraining anfangen: „Am besten noch während der Akutbehandlung. “ In den ersten Wochen nach dem Schlaganfall kann der Gesichtsfelddefekt noch von selbst nachlassen. Wenn die Schwellung in dem betroffenen Hirngebiet abnimmt, kehren ausgefallene Funktionen oder Bildausschnitte mehr oder weniger vollständig zurück. Und gelegentlich lässt sich dem Bildausfall operativ beikommen, etwa wenn ein Hirntumor in das Sehsystem drückt. Zwar sind Durchblutungsstörungen im Gehirn der häufigste Grund für eine Hemianopsie, aber auch Verletzungen oder eben Tumore schädigen Nervengewebe und können so die Sicht stören. Gut am Sakkadentraining sei vor allem, dass es selbst lange nach einer Schädigung noch wirke, sagt Susanne Trauzettel-Klosinski. Ihre Studie hat gezeigt, dass es auch Patienten hilft, deren Problem lange übersehen oder vernachlässigt wurde – Menschen wie Leonel Swift. Doch ein neu justiertes Blickfeld bedarf der Gewöhnung, wie dieser berichtet: „Je mehr ich nach links schaue, desto weniger sehe ich rechts. “ Dr. Christian Guht